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Weitere Texte

Hier finden Sie ein Sammelsurium kürzerer Texte: Klettersatiren und weitere nicht unbedingt ernst zu nehmende Begebenheiten...

Pumprisse – 1981
Von den Socken
Landschaftlich sehr schön – Klettersatire
Walfisch am Fels – Klettersatire
Kein Jubel am Grat – Klettersatire

»Pumprisse« – 1981

Pump oder Plumps

Der Katastrophen-Kimmerle hatte im Jahr 1980 2000 Flugmeter gesammelt: 600 Meter eine Eisrinne hinunter, 70 Meter, indem er zweimal hintereinander kurz vor dem Ausstieg einer Klettergartenroute abkippte. Die restlichen 1330 Sturzmeter kamen durch mühsame Kleinarbeit in den verschiedensten Routen zusammen. Und darauf war er zu Recht stolz. Mit diesem erfahrenen Partner konnte eigentlich nichts schief gehen an den legendären Pumprissen, obwohl ich nur einen Sechser klettern konnte. Damals im Sommer 1981, vier Jahre nach der Erstbegehung der Pumprisse, da war „Sieben“ noch ein Wort, das den Freaks im Hessigheimer Felsengärtle Schauer der Ehrfurcht über den Buckel rinnen ließ. Wer eine Sieben im Gebirge schaffte, der gehörte zur Prominenz. Dafür wollte ich sogar einen Riss klettern.

Am Parkplatz an der Griesner Alm dösten wir, auf den Sitzen eines VW-Käfer verpuppt, bis der Regen aufhörte. Es war 12 Uhr mittags. „Für die sechs Seillängen langt es noch locker“, sagte mein Vorsteiger. „Und der Zustieg ist bloß ein Fünfer, glaube ich, da sind wir gleich durch.“ Der „Zustieg“ zu den Pumprissen ist die „Brandler“, V+, A1. Wo die V+-Stellen sind, weiß ich nicht. Ich bin fast nur in der Trittleiter gestanden, schließlich wollte ich mein Können im ersten Siebener der Alpen beweisen und nicht in einer albernen Fünf. Gut, dass wir ein paar Stunden brauchten bis zum Quergang, mit dem die eigentlichen Pumprisse beginnen: Das gab dem Fels Zeit, einigermaßen abzutrocknen.

Beim Queren war Kiene bei der Erstbegehung mehrmals gemeinsam mit einem Haken abgeflogen. Mein Partner folgte dem großen Vorbild und brachte seinen Flugmeterstand mit zwei Stürzen elf Meter weiter. Dann warf er sich in den gefürchteten Körperriss. Dass der letzte Keil, ein Zwölferhex, zehn Meter unter ihm lag, schien ihn erst richtig zu beflügeln – nein, das Wort passt nicht in den engen Felsschlauch, sagen wir lieber: Er trieb seinen Leib mit der Energie eines Presslufthammers nach oben. Hoch über mir ruckten mal ein Fuß, mal eine Hand aus dem Schlund, dann war der Vorsteiger eineinhalb Stunden lang verschwunden. Ein dünner Schrei – das Seil straffte sich. War er gefallen oder hatte er Stand? Das würde ich weiter oben erfahren.

Der Fels nahm mich sofort in den Schwitzkasten. Jetzt wusste ich, wie einem gut sitzenden Klemmkeil zumute ist. Durch Rütteln mit Zehen- und Fingerspitzen gewann ich ein paar Kubikmillimeter Raum, bohrte den Kopf in den Fels, sprengte den Riss mit den Schultern – ein Arm und ein Bein waren draußen. Ich hatte die Grundregel des Kletterns im Körperriss begriffen: Du lehnst dich so weit hinaus, dass du glaubst, herauszufallen, tust es aber nicht. Doch wie kommt man nach oben? Es sieht aus wie vertikales Brustschwimmen und hört sich bei Nichtsachsen an wie das Schnauben eines zu Tode gehetzten Flusspferdes. Vom Rest der Tour weiß ich nur noch, dass wir rücksichtslos alle Haken benutzten, die wir fanden, und einige, die mein Partner dazuschlug. „Die Pumprisse sind eh keine Freiklettertour, man muss im Quergang sowieso Haken benutzen“, sagte ich.

Am Ausstieg stellten wir fest, dass keiner von uns beiden daran gedacht hatte, im Führer nachzulesen, wo es von hier aus hinunterging. Es wurde dämmerig und kalt. Einen Anorak hatten wir nicht dabei. Weil wir den Herrweg kannten, hetzten wir den Nordgrat zum Fleischbankgipfel hinauf. Dort war es dann so finster, dass wir gerade noch unterscheiden konnten, wo der Fels anfing und der Himmel aufhörte. Dass wir die Abseilhaken fanden, beim blinden Klettern im Zweiergelände nicht abstürzten, in der Steinernen Rinne kein Bein brachen, war pures Glück. Bekanntlich hat das auf Dauer nur der Tüchtige. Ich habe mich beim Klettern nie ernsthaft verletzt. Und der Katastrophen-Kimmerle? Ich bin ihm vor etwa fünzehn Jahren begegnet. Da war er noch putzmunter und hatte kein bisschen dazugelernt.

»Von den Socken«

Jeder Deutsche besitzt durchschnittlich 10,7 Sockenpaare und 3,4 Einzelstücke, das ergab eine Umfrage des Deutschen Forschungsinstituts für textile Fugitivität (FotexFu). Zehn Millionen Stunden pro Jahr werden zur Suche nach zusammengehörigen Exemplaren aufgewendet; die durch Sockenverlust entstandenen Kosten entsprechen etwa dem Etat des Staates für Kunst und Kultur.

Daher hat das FotexFu-Institut die volkswirtschaftlich wichtige Aufgabe übernommen, die Ursachen des Sockenschwundes zu erforschen und Möglichkeiten der Prävention zu entwickeln. „Hauptursache für die hohe Sockenverlustrate ist die innerpsychische egozentrisch-individualistische Tendenz von Socken“, so der Sockiologe Prof. Dr. Strümpfelbacher. „Durch die zwanghafte Zusammenklammerung mittels Plastik oder Faden im frühen Lebensalter vor dem Verkauf ist die Bindungsfähigkeit von Socken oft nachhaltig gestört. Dazu kommt, dass die Arbeitssituation der meisten Socken deren Frustrationstoleranz deutlich überschreitet, da sie zwischen muffigen Schuhen und schwitzender Haut aufgerieben und mit Füßen getreten werden.“

Auch die angeborenen Verhaltensmuster der Socken, so Dr. Stümpfelbacher, machten es den Sockenhaltern schwer, die Wanderbewegungen sämtlicher Exemplare im Auge zu behalten. Denn Socken sind scheu, oft unauffällig gefärbt und im Dickicht der Wohnung nur schwer auszumachen. Ihre bevorzugten Rückzugsorte sind Hosenbeine von selten getragenen Hosen und dunkle Winkel in Schränken. Bei Umzügen werden sie auch in Ritzen zwischen Matratzen entdeckt, in der Tiefkühltruhe oder im Aktenordner „Verschiedenes“.

Doch welche Strategien soll der Sockenhalter verfolgen, damit seine Socken möglichst lebenslänglich zusammenbleiben? Die Kreativabteilung der Forschungsgruppe des FotexFu-Instituts schlägt für die Praxis folgende Möglichkeiten vor:

1. Socken sofort nach Gebrauch zusammennähen.
2. Die beim Kauf mitgelieferte Strumpfzwinge belassen - auch beim Tragen der Socken. Leider können die Methoden 1 und 2 Marathonläufern nicht ohne Einschränkung empfohlen werden.
3. Eine Schnur annähen, die wie bei Kinderhandschuhen beide Socken verbindet. Solche Socken müssen jedoch vor dem Anlegen der Beinkleider durch die Hosenbeine gefädelt werden.
4. Nur gleich gefärbte Socken erwerben. Der Nachteil: verschwundene Exemplare werden nicht vermisst und auch nicht gesucht.
5. Sockenpaare sofort nach dem Ausziehen gemeinsam in eine Folie einschweißen und in einem Tresor höchster Sicherheitsstufe verwahren. Die Waschproblematik müsste noch näher erforscht werden.

Langzeitstudien in 2000 ausgewählten Haushalten haben jedoch ergeben, dass alle diese Maßnahmen noch keineswegs ausreichend sind, um das Abwandern einzelner Socken zu unterbinden. Hier bleibt ein Rest Geheimnis; in der physikalischen Grundlagenforschung ergeben sich interessante neue Ansätze, da bei Socken offenbar der Satz von der Erhaltung der Masse nicht gilt.

»Landschaftlich sehr schön« – Klettersatire

Mein Freund ist Alpinist. Und weil ich immer nur an den Fingerlöchern der Fränkischen Schweiz hänge, meint er, mir entgehe etwas ganz Wesentliches: Das große Abenteuer. Das ganzheitliche, unvergessliche Erlebnis. Das stolze Gefühl, eine große Linie druchstiegen zu haben. Die Harmonie mit der Natur. Der weite Blick vom Gipfel auf ein Meer von Gipfeln.

Er hat auch schon die passende Tour für meine Bekehrung herausgesucht. Im Führer wird sie so beschrieben: „Landschaftlich sehr schön, eine große Bergfahrt“.

Am nächsten Wochenende hämmert der Alpinist um drei Uhr morgens an meine Tür, packt meinen Rucksack und mich und wirft beides ins Auto. Durch den sechsstündigen Marsch im Fichtenwald sind wir schon gut aufgewärmt, als wir vor unserer Wand stehen. Nur ein bisschen geriffeltes Gelände trennt uns noch von der feinen Risslinie dort oben, die pfeilgerade zum Gipfel hinaufzieht - eine jener großen, klassischen Linien, deren Anblick jedes echte Bergsteigerherz höherschlagen lässt.

„Da muss man doch einfach hinauf!“, jubelt mein Freund. Wie eine Gemse springt er einen hochkant gestellten, ziemlich steinigen Acker hinauf, wobei er etwas von alpiner Erfahrung murmelt und der Acker auf mich herabströmt. Ich schaufle mich aus dem Kegel und ziehe einen hüfttiefen Graben bis zum Standplatz an einem soliden Ringhaken, der an einem Edelweiß festgebunden ist.

Bei den folgenden 28 Seillängen durch schwankende Stapel von hausgroßen Felsblöcken und überhängende Almweiden ohne Kühe überlasse ich ihm freiwillig die Führung, was mich zum Tragen des Rucksacks verpflichtet. Gut dass wir nur das Nötigste mitgenommen haben: Steigeisen, feste Bergstiefel für den Abstieg, Firngleiter, Pickel, Eisschrauben, Skistöcke, Kochtopf, Kocher,  Biwaksack, drei Liter Wasser, Essen für drei Tage, einen Blitzschutzsack, Signalraketen, das Tourenbuch, das botanische und faunische Bestimmungsbuch und mehrere geologisch interessante Felsen, die mein naturverbundener Freund unterwegs aufgelesen hat. Um Gewicht zu sparen, haben wir die Zahnbürsten gekürzt.

Und nun, in der 29. Seillänge, stehen wir vor ihr, jener großartigen Linie, die wie ein feiner Riss ausgesehen hat. Der Alpinist stürzt sich in den schwarzen Schlund und bleibt stecken. Nun atmet er aus, wird länger, dünner und schiebt sämtliche Körperteile nach oben, bis er einen Viertelmeter Höhe gewonnen hat. Das war´s. Jeder der an ihm hängenden Hexentrics, Friends und Haken ist irgendwo am Fels eingerastet.

Beim Biwak singen wir „Wenn wir erklimmen“, und es ist sehr romantisch. Wir drinnen im Kamin, festgepreßt an den Busen der Natur, die Sterne draußen, unsichtbar und unerreichbar. Am nächsten Morgen pickle ich das Eisenzeug und den Alpinisten heraus. Dieser rudert höher und wickelt sich elegant um einige Klemmblöcke, bis er einen feststeckenden Helm findet, an dem er Stand macht.

Nun folgt die berühmte 30. Seillänge, eine „herrlich ausgesetzte, luftige Kletterei“ im Spreizkamin, durch den ein Wasserfall auf uns herabstürzt. Und dann erst die „elegante Plattenkletterei“! Zwischen den Algen finde ich endlich einen grünen, knubbligen Griff. Als er laut quakend davonhüpft, gelingt es mir, das Bein eines Murmeltiers zu angeln. Es pfeift empört, als ich mit ihm die Moos- und Laichschicht abwische, um die mit Sand zusammengebackenen Felssplitter darunter freizulegen.

Auf dem Schneefeld unterm Gipfel warten wir, bis der Hagelsturm aufhört und die Lawinen nur noch alle fünf Minuten an uns vorbeirauschen, dann stürzt mein Freund freudig auf das Gipfelkreuz zu, kritzelt hastig etwas ins Gipfelbuch und schießt wie eine Kanonenkugel die Schutthalden auf der anderen Bergseite herunter.

Später kaufe ich ein Panorama vom Hinteren Wamperten Brochkogelschrofen. Die Aussicht muss tatsächlich sehr schön gewesen sein.

»Walfisch am Fels« – Klettersatire

Wastl war so grazil wie ein Walfisch und fett wie eine Blutwurst. Voll Verachtung blickte er auf die spillerigen Bürschchen, die trotz ihrer körperlichen Vorteile nur einen Siebener hinaufkamen.

Eines Tages aß er eine ganze Schwarzwälder Kirschtorte und fühlte sich stark wie noch nie. Die Erde dröhnte unter seinen Schritten, als er zum Einstieg marschierte, wie immer gefolgt von einer Schar begeisterter Fans. „Alles bloß Technik“, sagte er lässig und musterte die senkrechte Platte mit den messerrückendünnen Käntchen voll Zuversicht. So was lag ihm. Da konnte die Schwerkraft nicht ganz so unverschämt an ihm zerren wie in Überhängen und Dächern. Die Schuhe zog ihm ein Fan an, eine Venus von Kilo, die gerne mal sehen wollte, wie man mit Bauch eine Sieben plus klettert.

Dann trat Wastl ran an an die Wand. Und merkte, dass er ein Problem hatte: Der Scheitelpunkt seiner Bauchkurve lag näher am Fels als seine ausgestreckten Fingerspitzen. Nun hatte er die Wahl zwischen zwei Horrorvisionen: Er musste das Klettern aufgeben. Oder abnehmen. Von da an lieferte der Postbote die Pakete beim Nachbarn ab, denn aus Wastls Wohnung drang ein bedrohliches Knurren. Das war sein Magen, in dem eine halbe Karotte rumorte. Jeden Abend legte er sich bäuchlings in einer Hängematte über den Gartengrill, um Fettzellen herauszuschmelzen. Er litt. Hängte das Foto einer Schwarzwälder Kirschtorte über sein Bett. Brach beim Anblick der Speckschwarten in Konstein in Tränen aus. Sein Fanclub "Fett for Fun" löste sich auf.

Dafür fand er neue Freunde aus der Wettkampfszene, mit denen er den Kaloriengehalt einer Orange diskutieren konnte. Seine Schneidezähne und Ohren begannen zu wachsen - wegen der Karotten - und einmal wurde er ins Krankenhaus eingeliefert, weil er "Rohrfrei" geschluckt hatte, um einen in seiner Gurgel steckenden Klumpen aus Eiweißpulver und Kleie zu entfernen.

Bald hatte er 33 Kilo abgenommen, sein Kletterniveau war von Sieben plus auf Acht minus gestiegen: Wastl war näher an die Weltelite herangerückt. Jetzt packte ihn der Ehrgeiz. Er hatte sein Fett weg - was konnte er tun, um noch leichter zu werden? Er gipste seine muskulösen Beine ein und ging mit Krücken, bis sie zu Besenstielen verkümmerten. Der Blinddarm musste raus. Weitere einfache Maßnahmen waren häufiges Blutspenden, eine Vollrasur von den Knöcheln bis zum Scheitel und sorgfältiges Schneiden der Nägel.

Er entleerte sein Gehirn und wurde leichtsinnig. Nur so ist es zu erklären, dass er noch manchmal seine alten Hemden trug, die ihn jetzt wie Segel umflatterten. Bei der Grippewelle im Frühjahr wurde er zum letzten Mal gesehen.

»Kein Jubel am Grat« – Klettersatire

„Die Götter haben den Menschen die Zeit gegeben. Von der Eile haben sie nichts gesagt.“ Vermutlich kannten die Götter keine Seilbahnen. Dass wir Füße immer den Mund halten, wenn der Kopf, dieser hochnäsige Intellektuelle, etwas beschlossen hat! Morgens um Sieben müssen wir unseren Dienst antreten. Das kann nur eins bedeuten: Eine Bergtour.

Eine Stunde auf dem Gaspedal, wir erreichen gerade noch die erste Seilbahn auf die Zugspitze. Mit zwanzig schwitzenden Kollegen in roten Wollsocken und wadenhohen Stiefeln poltern wir hinaus auf eine Plattform aus Drahtgitter, über die der Wind pfeift. Unter uns glitzert eine Plexiglas-Raumstation. Rund herum leuchten schneebedeckte Berge vor dunkelblauem Himmel.

Typisch, dass der Kopf nur winzige Rechtecke wahrnimmt – die Ausschnitte im Sucher der Spiegelreflex-Kamera. Fünfzehn Bilder später merkt er, dass unsere Kollegen schon das goldene Gipfelkreuz zweihundert Meter weiter erreicht haben. Der Kopf erklärt, wir müssen sie einholen, weil man nur Bilder mit roten Anoraks im Vordergrund verkaufen kann. Wir stolpern, noch morgenträge, die Treppe hinunter.

Ein Angestellter der Seilbahn glaubt, wir seien falsch angezogen, und rät zur Umkehr. „Halbschuhtouristen ghör´n net ins Gebirg!“ Egal, sagt der Kopf. Die Hühneraugen haben auf Turnschuhen bestanden, und wir als geübte Kletterer kommen damit schon klar. Hinterm Kreuz erhaschen wir einen Blick auf eine Metallplatte mit dem Namen des Klettersteigs und hasten abwärts, immer den dicken Drahtseilen nach. Bei diesem Tempo schleudern wir auf den eisüberzogenen Felsen, doch auf unsere Verwandten, die Hände, können wir uns wie immer verlassen. Seltsam, dass die roten Anoraks noch immer nicht zu sehen sind.

Ha! Wir Turnschuhtouristen werden es den Vollrindlederzwiegenähten schon zeigen! Eine Dreiviertelstunde später erblicken wir endlich Menschen, zwanzig Meter unter uns auf einem Gletscher. Aber – die steigen ja auf! „Ich dachte, es geht immer am Grat entlang, da ist etwas faul," erklärt der Kopf. Er beugt sich über die Karte, die er bisher noch nicht studiert hat, weil wir gestern erst nach Mitternacht aus den Dolomiten zurückgekommen sind. „Ich Vollidiot“, tönt es aus zusammengebissenen Zähnen. „Zurück, los, bewegt euch! Wieder rauf!“ Nervenimpulse blitzen bis in die Zehenspitzen, wir hetzen bergauf, bis wir wieder an der Metallplatte ankommen.

Ein Pfad – ohne Eisen – , den wir vorher in der Eile nicht gesehen haben, zweigt nach rechts ab. „Ich Vollidiot“, murmelt es von oben. „Im Kletterführer stehen neun Stunden für den Jubiläumsgrat, fürs Fotografieren unterwegs müssen wir mindestens eine Stunde einplanen. Jetzt ist´s halb Elf, um halb Sechs geht die letzte Bahn. Wenn ihr trödelt, müsst ihr tausend Höhenmeter mehr absteigen, vielleicht im Dunkeln!“

Wir legen uns in die Kurven, schlingern auf Rollsplit-Fels, balancieren über felsige Schneiden, steigen ab und auf, die Fersen gucken in Abgründe. Da – ein paar Drahtseile, daran gefesselt schleichen rote Anoraks. Heftiges Kameraklicken, „ein Traumtag, was für ein Wetter, viel Spaß noch!“, dann an ihnen vorbei. Auf dem nächsten Gipfelchen eine halbe Stunde Frühstückspause. „Vielleicht ist´s gar nicht so weit, die hinter uns wollen ja auch zur Seilbahn.“

Sie trudeln ein, Rentner mit sonnengegerbten Gesichtern, die wissen, wo welcher Berg steht. Sie schauen in die Weite, nicht durch die Linse. Kaum hat uns die Glukose aus der Semmel erreicht, traben wir weiter, stur wie im Hamsterkäfig. Unter uns rollen die Wellen des Kamms, die Gletscher am Horizont stehen still. Laufen, laufen, mit Blick auf die Uhr zum nächsten Gipfel wie zu einem Konferenztermin, das Joch muss noch erledigt werden, Gegenverkehr vom allerletzten Zapfen der Reihe, klick, klick, gute Bilder mit gelbem Pullover, zum Kreuz.

Unser Oberhaupt rechnet: Eine halbe Stunde Fotopause, mit Sicherheitsreserve drei Uhr dreißig Abstieg zur Fünf-Uhr-Seilbahn, denn mit der Fünf-Uhr-Dreißig-Seilbahn kämen wir mit Bahn und Bus nicht mehr zurück zum Auto. „Gut gemacht!“, sagt der Kopf, als wir endlich aus den Turnschuhen dürfen und das Gaspedal durchtreten. „Die Rentner sind viele Stunden hinter uns, die müssen auf halber Strecke zur Hütte abgestiegen sein. Oder sie übernachten in der Biwakschachtel. Wir haben die ganze Tour geschafft – obwohl wir zuerst den falschen Grat erwischt haben.“

„Vollidiot!“, entgegnen wir, und das Herz, das den ganzen Tag nur Blut gepumpt und nichts gesehen hat, gibt uns recht.

Hintergrundfoto - background visual